im bann des balkans

02.11.2017 - verfasst von Stephie

Etwas hat sich in Albanien verändert. Zunächst können wir es nur an offensichtlichen Dingen festmachen: den kleinen, fliegenden Märkten entlang der Promenaden, den zahlreichen, zumeist von männlicher Geselligkeit besuchten Cafés sowie den Kutschen und Eselskarren, die sich beim Queren der Straßen nicht vom üblichen Verkehrschaos ablenken lassen, sondern vielmehr auf ihre gemütliche Art zu eben diesem beitragen. Wir kommen in der größten Stadt des albanischen Nordens, in Shkodra an und finden schnell Gefallen an dem geschäftigen Treiben. In den letzten Wochen hatten uns Städte nicht sehr angezogen, doch nun versprechen kosmopolitische Vorzüge wieder etwas Abwechslung. Wir genießen die geballte Vielfalt, probieren uns durch viele kleine Köstlichkeiten und spazieren über diverse Märkte, welche die breiten Gehwege säumen. Die meist unter freiem Himmel angebotenen Waren reichen von Lebensmitteln über Plastikwaren made in China bis hin zu secondhand Kleidung. Typisch albanisch ist eine ausgiebige Nachmittagspause (à la Siesta), bevor man sich wenig später zum beliebten „Xhiro“, dem Abendspaziergang, trifft und die Geschäfte noch einmal ihre Pforten öffnen.

 

Ich würde mich, wie vermutlich viele von uns, ganz unbescheiden als vorurteilsfreien Menschen bezeichnen. Dass das ein Wunschdenken ist, merke ich zum Beispiel dann, wenn ich in Deutschland einen Mann hinter dem Steuer eines Mercedes-Benz mit albanischem Kennzeichen erblicke. Welches ist die erste Assoziation, das erste Bild, das instinktiv im Unterbewusstsein auftaucht? Die Vorstellung eines liebevollen Vaters, der seine in Deutschland studierende Tochter besucht, wäre, zumindest bis vor kurzem, nicht mein erster Einfall gewesen. Dass in Albanien jedoch tatsächlich jeder Dritte einen Mercedes-Benz fährt, da man wegen der hiesigen, bis vor wenigen Jahren teils sehr schlechten Straßenverhältnisse schlichtweg die Robustheit dieser Fahrzeuge schätzt, verleiht diesem Gedankenspiel einen bitter-komödiantischen Beigeschmack.

 

In zahlreichen Begegnungen wird uns ein immer größer und zunehmend sympathischer werdendes Bild dieses unscheinbaren Landes vermittelt. Es bedarf nicht vieler Worte, doch die Freude ist stets groß, wenn wir uns zumindest an ein paar albanischen Vokabeln und Floskeln versuchen oder berichten, welche Orte wir bereisen. Unser Interesse für Land und Leute wird oft enthusiastisch begrüßt und nicht selten mit einem Kaffee, Raki oder anderen Köstlichkeiten belohnt. Schließlich, so beschreiben es Edi und Brisi (das Pärchen, welches wir in Bosnien Herzegowina kennenlernten), sind die Albaner*innen zwar kein finanziell wohlhabendes Volk, doch tut das ihrer großzügigen Gastfreundschaft keinen Abbruch. Es ist eine jener kulturellen Ironien, von denen wir bereits durch andere Reiseberichte erfahren haben: Je kleiner der Besitz eines Menschen, umso größer scheint das Selbstverständnis, diesen zu teilen.

 

Für uns ist es genauso bereichernd wie bedrückend, unter der Oberfläche zu kratzen und uns ein vollständigeres Bild des Landes machen zu können, welches über sonnige Reklamen hinausgeht und die Schattenseiten zu Tage bringt. Tatsächlich berichten uns Albaner*innen immer wieder von ihrer Unzufriedenheit über die geringen beruflichen Möglichkeiten und den Mangel an sozialer Sicherheit. Zwar liegen die Kosten für Alltägliches weit unter dem Durchschnitt von dem, was man üblicherweise in Deutschland bezahlen würde, doch verdient ein Großteil der Bevölkerung gerade mal etwa einen Euro pro Stunde. Korrupte Strukturen auf einigen politischen Ebenen lassen die Entwicklung des Landes nur zäh vorankommen. Auf die Frage nach Gewerkschaften oder Demonstrationen winken die Leute meist ab. Zu groß ist die Angst, den Job zu verlieren. Arbeitssuchende, die einen schnell ersetzen würden, gäbe es genug. Viele, vor allem junge, gut ausgebildete Landsleute zieht es ins Ausland. Doch es gibt auch jene, die ihre Kreativität und ihr Potenzial in die Städte tragen und diesen ein pulsierendes Flair verleihen. Hippe Cafés, wie wir sie etwa aus Köln-Ehrenfeld kennen, mit einer breiten Kaffeeröstungskultur, verpackungsfreie Lebensmittelgeschäfte und liebevoll gestaltete Hostels prägen somit ebenso die Stadtbilder wie etwa die offene Müllverbrennung, primitive Grillstände mit Esskastanien und Maiskolben oder die mit Feuerholz schwer beladenen Maultiere. Es ist eben diese Diversität, die uns auf Anhieb so gut gefällt, die wir so liebenswert finden. Mir scheint, dass, auch wenn die Albaner*innen häufig über die Entwicklungen ihres Landes klagen, sie es doch lieben und ihre Kultur und Natur schätzen, von dem vielen herumfliegenden Müll einmal abgesehen. Der Zusammenhang zwischen Umweltverschmutzung und der Natur als öffentlichen Abfalleimer ist bisher leider nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung Thema.

 

Wovon sich Deutschland hingegen eine Scheibe abschneiden dürfte, ist die albanische Lebensmittelindustrie. Kleinbäuerliche Landwirtschaft deckt fast vollständig den nationalen Lebensmittelbedarf, sodass es in diesem Sektor kaum zu Importen kommt. Resultat: eine beachtlich gute Qualität von Obst und Gemüse. Auf den Märkten sieht in der Tat einfach alles köstlich aus. Auberginen sind kleiner und dünner als die uns bis dato vertrauten, aufgeschwemmten Glanzexemplare, Tomaten haben einen solch intensiven Geschmack, wie ich ihn selbst von jenen aus dem Garten meiner Eltern noch nicht kannte. Einige Händler*innen bieten neben Obst und Gemüse auch Nüsse oder verarbeitete Produkte wie Käse, Öl und getrocknete Früchte an. Ein Gang über einen Markt oder Blick in einen Garten präsentiert bereits einen Reichtum, welcher Gelüste nach weiteren Produkten aus fernen Ländern überflüssig werden lässt. Auch wenn mein Umweltbewusstsein schon vor einiger Zeit verstanden hat, dass es einer enormen Energieverschwendung bedarf, diese für uns normal gewordene Vielfalt an Waren aus aller Welt in unsere Supermarktregale zu zaubern, so habe ich es dennoch zugelassen, dass Produkte wie Bananen oder Avocados regelmäßig in meinem Einkaufskorb landeten. Wo ich einerseits penibel auf Regionalität und Saisonalität achte, treten andererseits bei meinen exotischen Lieblingen meine Prinzipien in den Hintergrund.

 

Nach Shkodra lockt es uns auf unserer albanischen Rundreise zunächst nördlich in die Alpen. Zum ersten Mal legen wir auf andere Weise als per Anhalter Strecke zurück, nämlich zu Fuß. Von Theth aus, einem kleinen alpinen Dörfchen, bezwingen wir mit unserem Gepäck einen Pass von 1.900 m Höhe und gelangen ins Tal von Valbona, wo wir zusammen mit einem französischen Pärchen den vielleicht schönsten Zeltplatz unserer bisherigen Reise ausmachen. Rundherum werden unsere Augen mit phänomenalen Aussichten auf die schroffen Felsformationen der Alpen verwöhnt, die in der Abendsonne immer wieder unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Frei umherlaufende Pferde und Esel verleihen der Szenerie eine zusätzliche Mystik. Ich glaube, wir waren uns an diesem Abend alle vier unserem Glück bewusst. Ständig musste ich daran denken, dass dies im Voraus immer genau das Wunschbild meiner Reisevorstellungen war: der perfekte Wildcampingplatz, ein knisterndes Lagerfeuer, Gleichgesinnte, gute Gespräche, etwas Wein und ein atemberaubender Sternenhimmel. Am darauffolgenden Tag durchqueren wir mit einer Fähre den Koman-Stausee und freuen uns, während wir dem Meeresspiegel langsam wieder näher kommen, auf mildere Temperaturen. Die Nacht verbringen wir im Vorgarten einer kleinen, von italienischen Nonnen betreuten Behinderteneinrichtung. Es ist der 24. September. Als wir uns am nächsten Morgen verabschieden, berichten uns die liebenswürdigen Kirchenfrauen, dass Frau Merkel weitere vier Jahre als Bundeskanzlerin tätig sein wird.

 

Wir steuern den Osten des Landes und damit die tendenziell geringer besiedelten Regionen an. Das nebelige Wetter lädt ein, etwas Strecke zu machen. Über eine sehr wenig befahrene Straße, von der uns noch abgeraten wird, da diese viel länger dauern würde als die Straße über die Hauptstadt Tirana, wir daraufhin erheblich Mühe haben, den Ortsansässigen zu erklären, dass Zeit für uns keine Rolle spiele und wir gerade wegen (!) ihrer Abgeschiedenheit die selten befahrene Straße bevorzugten … gelangen wir schlussendlich doch an unser Tagesziel. Tatsächlich stößt unsere Routenvorstellung auf wenig Verständnis. In den nächsten Tagen erklärt man uns immer wieder, dass das, was wir auf unserer Karte für attraktive Landstraßen halten, keine guten Fahrbahnen seien, auf unserer Strecke kaum jemand unterwegs sei und es viel schneller und besser über einen anderen Reiseweg ginge. Manch einer meint gar, uns zur Vernunft bringen zu müssen, indem er kurzerhand behauptet, die Straße gäbe es nicht mehr. Hier stoßen unsere lächerlichen Albanisch-Kenntnisse oft an ihre Grenzen. Mehrfach werden wir auf Überlandbusse verwiesen, einmal dreht ein Fahrer sogar nach ein paar Kilometern um und möchte uns zur Autobahn bringen. Die andere Route sei viel zu „lungo“ (ital.: lang). Simon protestiert vehement und sagt, halb lachend, halb fassungslos: „lungo shumë mirë!“, was so viel bedeutet wie: lang sehr gut! Endlich werden wir erhört. Unsere Sturheit zahlt sich aus. Entgegen aller Warnungen kommen wir gut voran und genießen die abwechslungsreichen Berglandschaften, während wir uns langsam gen Süden vorarbeiten. Wir treffen auf Manfred aus Österreich, der uns mit seinem Landrover ein gutes Stück mitnimmt. Auf einmal wird die Straße dann doch ziemlich holprig und zieht sich für mehrere Stunden durch ein unbesiedeltes, wunderschönes Gebiet. Was ein Zufall, ausgerechnet bei dieser Etappe in einem Wagen mit Vierradantrieb zu sitzen. Manfred kam uns wie gerufen.

 

Da mich mittlerweile eine kleine Grippe plagt, nisten wir uns in Korca für drei Nächte in ein schnuckeliges Hostel ein, bestellen Pizza, schauen Tatort und erholen uns beim Faulenzen prächtig. Zwischendurch spazieren wir durch das lebendige Städtchen, welches ein weiteres Beispiel dafür ist, wie die Anwohner mit Hilfe von einladend aussehenden Lokalitäten, bunt angestrichenen Wohnhäusern und einer verhältnismäßig großen Anzahl an Museen ein modernes, jedoch gleichzeitig gemütliches Flair kreieren. Auf dem Weg weiter Richtung Süden arbeiten wir spontan zwei Tage in einem abgelegenen Gasthaus, Simon hinter der Kaffeebar, ich im Service. Zwar entpuppt sich der anfangs sympathisch wirkendende Chef als liebloser Geschäftsmann, doch macht uns das Arbeiten und der Kontakt zu den Gästen Spaß. Unter diesen befindet sich unter anderem eine holländische Fahrradtruppe, deren Reiseleiter uns am dritten Tag in seinem Minibus mitnimmt. Wir fahren mal vor, mal hinter den Radreisenden und kommen so in einem sehr gemächlichen Tempo voran, was wir jedoch auf Grund der faszinierenden Naturkulisse begrüßen. Die letzten Tage unserer Rundreise verbringen wir an der Küste. Hier locken nicht nur kristallklares, türkisblaues Wasser und gutes Wetter, sondern auch zahlreiche verlassene Strandbars, die wegen der Nebensaison bereits geschlossen haben und deren überdachte Terrassen und Möbel sich wunderbar zum Zelten eignen.

 

Nach drei Wochen erreichen wir schließlich Durres, eine größere Stadt an der Küste, wo wir für einen Monat gegen Kost und Logis in einem Hostel arbeiten. Wegen besagter Nebensaison gibt es nicht viel zu tun, meist hier und da nur etwas Rezeptionsarbeit. Es ist schön, mal wieder länger an einem Fleck zu bleiben. Das Hostel hat eine sonnige Dachterrasse und einen üppig bepflanzten Vorgarten, wo man sich gut und gerne den halben Tag aufhalten kann, sodass einem dieser Ort in der sonst recht zerbauten Stadt wie eine Oase vorkommt. Hier können wir uns zurückziehen, aufgeschobene Emails beantworten, die geräumige Küche nutzen und Bücher lesen. Dennoch vermissen wir schon bald den Kontakt zur lokalen Bevölkerung, kehren hier doch fast nur ausländische Touristen ein und auch die Mitarbeiter*innen sind allesamt internationale Freiwillige. Um dieser Blase ab und an zu entkommen, unternehmen wir kleinere Ausflüge in die umliegenden Gegenden. Bei einem dieser Abstecher treffen wir wieder auf unsere Freunde Edi und Brisi, die uns Tirana, ihre Hauptstadt, zeigen. In wenigen Tagen geht es wieder los, weiter südlich, nach Griechenland. Dort haben wir gute fünf Wochen Zeit, um das Land zu bereisen, bevor wir anschließend wieder etwas Freiwilligenarbeit leisten. Dieses Mal bei einem Ehepaar, das auf dem besten Weg ist, sich mit ihrer kleinen, abgelegenen Farm auf Euböa, der zweitgrößten griechischen Insel, als Selbstversorger zu probieren. Wir sind gespannt!